Die freundliche Herberge

Criminal-Novellette von Ralph v. Rawitz.
in: „Der Sonntagsbote”, Milwaukee, vom 18.04.1909


An einer Ecke des Konnaja-Marktes in Moskau, bekannt durch die großen Pferdemärktc, die dort stattfinden, stand bis vor Kurzem ein Hotel, das den Namen „Zur freundlichen Herberge” führte. Es war ein mehr nach der Tiefe ausgedehntes, als breites Gebäude, mit mehreren Höfen, großen Stallungen und etwa zehn oder zwölf Gastzimmern versehen. Hier pflegte eine getreue Stammkundschaft vorzusprechen, eine Anzahl von Händlern, die entweder in Moskau selbst zu thun hatten, oder aus dem Süden Rußland's nach Nischny-Nowgorod zu den großen Augustmessen pilgerten und einige Tage iu der alten Hauptstadt des Reiches nach Herzenslust vergnügt sein wollten. Der alte Iwan waltete dort als Wirth schon seit mehreren Jahrzehnten und war mit seinen Gästen so verwachsen, daß er ihre Familien- und Vermögensverhältnisse auf das Genaueste kannte. Und sie kannten ihn, seine Redlichkeit, seine guten Betten, die fette Küche und die weiten Stallungen auch und ließen manchen Rubel springen, zumal wenn sie sich auf dem Heimweg befanden und die Messe gut ausgefallen war.

Als der alte Iwan starb, übernahm sein Neffe Sergei das Hotel, der schon feit mehreren Jahren dem alternden Onkel zur Hand gegangen war; er stammte von jenseits der Wolga aus dem Ural-Gouvernement, hatte wenig Schulbildung, besaß aber einen ungemein scharfen Kopf und sehr viel Geschäftssinn.

An einem warmen Septemberabend kehrte in der „freundlichen Herberge” der Großkaufmann Dimitri Pjesnakoff ein, der von der Messe aus Nisch zurückkam und nach Kiew heimwollte. Er war ein starker Mann, Mitte der Fünfziger, sehr lebenslustig, sehr heiter, wenn er einen guten Tropfen getrunken hatte. Er liebte besonders lärmende Geselligkeit und feurige Musik und verthat jedesmal ein Säckchen voll Silberrubel, wenn er in Moskau weilte. Auch dieses Mal ließ er es daran nicht fehlen, und die Glocke auf den Thürmen der Stadt hatte schon lange ein Uhr geschlagen, als er wieder in seinem Hotel eintraf. Der Oberkellner geleitete ihn selbst bis in sein Zimmer, in dem der Großkaufmann sich einschloß, bevor er zu Bette ging.

Am nächsten Morgen schlief der reiche Gast sehr lange, und es fiel auch nicht auf, daß er zum Frühstück nicht in die Gaststube binunterkam. Erst in der zweiten Stunde nach dem Mittagsläuten wurde der Hotelier besorgt. ließ an der Thür des Kaufmanns pochen und sandte zur Polizei, als auf das Klopfen Niemand antwortete. Es fanden sich auch bald zwei Beamte ein, die unter Hinzuziehung eines Schlossers das Gemach öffneten. In dem großen, bequemen Bett, in ruhiger, friedlicher Stellung, lag Dimitri Pjesnakoff da — kalt und todt.

Sergei. der Hausbesitzer, war außer sich. er berief sofort den Oberkellner, bat auch zwei andere Gäste als Zeugen in das Gemach zu treten und ließ dann zwei berühmte Aerzte holen.

„Ich bitte Sie, meine Herren, den Todten auf das Genaueste zu untersuchen”. sagte er zu den Doctoren, „denn jeder Todesfall ist für ein Hotel ein entsetzlicher Schlag. Die liebe Concurrcnz beutet solchen Unfall sofort aus, und schon nach acht Tagen heißt es. der Verstorbene sei von böswilliger Hand beseitigt worden. Mein Haus genießt seit 36 Jahren einen glänzenden Ruf. den ich zu bewahren verpflichtet bin.”

„Sie haben schwerlich Anlaß zu Besorgnissen”, sagte Professor Obutscheff. „Hier liegt ganz deutlich Herzschlag vor. Der Todte war dazu durch seine Fettleibigkeit sehr disponirt, auch hören wir von Herrn Kaufmann Pawloswsky, der mit ihm gestern Abend zusammen gewesen ist, daß der Hingeschiedene immense Mengen Alcohol zu sich genommen hat. Auch der äußere Befund der Leiche spricht für Herzschlag. Ich trage keine Bedenken, ein dahinlautendes Attest auszustellen.”

Dr. Lewcnewgorod pflichtete bei. In ihrer Anwesenheit wurde dann noch das Gepäck des Todten versiegelt und dem Polizeichef übergeben.

Dimitri Pjesnakoff wurde eingesargt und nach Kiew befördert, wo die Beerdigung stattfand; er hinterließ einen Sohn Alexei, einen jungen, intelligenten Menschen, der einige Jahre in einem Petersburger Bankhause thätig gewesen war und in letzter Zeit die Procura des väterlichen Geschäfts geführt hatte. Alexei war tief betrübt, er war aber auch ein kluger Rechner. Und so stellte er bereits am Morgen nach der Beerdigung fest, daß sein Vater mit Vorräthen im Werthe von §60,000 Rubeln abgereist war, wogegen sich in seinem versiegelten Reisegepäck nur 650 Rubel, eine Quittung über 300 Rubel und Schmucksachen im Werthe von etwa 2000 Rubeln befanden. Da einer Mittheilung einer befreundeten Firma in Nisch zufolge, sämmtliche Vorräthe in Geld umgesetzt worden waren, so fehlten mindestens 67,000 Rubel. Wo waren die geblieben?

Alexei schlug keinen Lärm, er wendete sich nicht an die Pclizei, er beschloß, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Ein Freund, reichlich mit Mitteln von Alexei versehen, unternahm es, in Moskau Schritt für Schritt nachzuprüfen, wo der Todte an jenem Septembcrabend gewesen war. Daß er das Geld in Papier bei sich getragen, tonnte als sicher vorausgesetzt werden; denn dies war Dimitri's Gewohnheit gewesen. Es gelang auch festzustellen, was der Todte verzehrt und verausgabt hatte; allgemein wurde auch constatirt, daß der Großkaufmann zwar viel, aber doch für seine Verhältnisse wenig getrunken hatte und durchaus nüchtern in sein Hotel heimgekehrt war. Auf Grund dieser Ermittelungen verstärkte sich in Alexei Pjesnakoff der Verdacht, sein Vater sei nicht nur bestohlen. sondern auch ermordet worden; ermordet in seinem Bett und wahrscheinlich durch Gift. Entschlossen, den Schleier zu lüften, koste es, was es wolle, beschloß der junge Kaufmann, in die Mordhöhle selbst zu gehen.

An einem eisigen Winterabend traf er in Moskau ein und begab sich sofort nach der „Freundlichen Herberge”, wo er sich als „Alexei Sassulin, Bankier aus Riga”, in das Fremdenbuch eintrug. Gleich bei der Ankunft ließ er dem Hotelier, wie dem Oberkellner gegenüber große Baarmittel blicken, um den Eindruck zu studiren, den dies auf den Hauswirth und die Bedienung mächen werde; er hütete sich dagegen, etwas in dem Hotel zu genießen und schützte heftigen Magencatarrh vor. bat auch um ein recht ruhiges Zimmer.

„Wir haben zur Zeit fast alles leer”, erklärte der Hotelier, „der Herr kann sich ja aussuchen. Ich würde meinestheils No. 9 empfehlen, das sehr groß ist, Sonnenseite hat und durchaus ruhig liegt. Aber ich nehme doch Abstand von diesem Vorschlag; denn ich will Ihnen nicht verhehlen, daß dort vor einiger Zeit ein Gast am Herzschlag gestorben ist. Sie werden gewiß daran Anstoß nehmen, und ich pflege meinen Gästen stets im Voraus zu sagen, welche Bewandtniß es damit hat. Schade, es ist mein bestes Zimmer!”

„Das genirt mich nicht”, sagte Bankier Sassulin, „ich nehme Zimmer No. 9. Lassen Sie gut heizen und mir etwas Thee hineinstellen. Ich gehe sofort zu Bett, ich bin sehr leidend.”

Alles geschah nach Wunsch. Als Alexei sich im Zimmer allein sah, klopfte er vorsichtig die Wände ab, um etwaige Tapetenthüren oder andere verborgene Zugänge zu entdecken; er untersuchte den Kamin, sämmtliche Möbel, die Thürschlösser — alles war in Ordnung. Dann goß er eine Probe Thee in ein mitgebrachtes Fläschchen, um es später auf Gift zu analysiren, schüttete den Rest in den Kamin, legte sich zu Bett, nahm einen Revolver zur Hand und löschte die Kerzen.

So lag er lange Zeit und zählte die Uhrschläge: zehn — elf — zwölf. Dann überkam ihn Müdigkeit. Aber keine gesunde Müdigkeit, wie sie nach einer Reise eintritt, sondern eine bleierne, erschlaffende, Schwindel erregende Abgespanntkeit. Er zündete Licht an, abcr die Kerze auf dem Stuhl neben dem Bett flackerte und erlosch plötzlich wieder. Es war, als ob eine unsichtbare Hand sie erdrückte. Auch die Streichhölzer versagten den Dienst, nachdem sie nur kurz aufflammend gebrannt hatten.

„Mein Gott, was ist das?” rief Alexei. „Ich ersticke fast! Jedenfalls Luft, Luft!”

Er sprang an das Fenster und öffnete beide Flügel; ein kräftiger Ostwind blies in das Zimmer hinein. Alexe! fühlte, daß ihm besser und wohler wurde. Er legte sich wieder auf sein Bett, ließ jedoch das Fenster ein wenig geöffnet; die Mattigkeit stellte sich nicht wieder ein.

„Schurke, ich habe Dich!” sprach er zu sich. „Mörder und Dieb, Du sollst mir nicht entgehen!” —

Am nächsten Morgen statete Alexei dem Polizeidirector einen Besuch ab, und eine Stunde später wurde der Hotelier Scrgei verhaftet. Zwar leugnete er im Anfange jede Schuld, aber seine gutgespielte Empörung wich tiefer Niedergeschlagenheit, als die Baupolizei nachwies, daß aus dem Gemach über No. 9 nach diesem Zimmer eine durch Tapeten verdeckte Rohrleitung führte, mittels deren Kohlensäure — eine geruchlose, bei Einathmung aber schnell tödtendc Gasart — nach No. 9 befördert worden war.

Nunmehr wurde auch die Leiche Dimitri Pjesnakoff's in Kiew exhumirt, und sie ergab die characterischen Symptome der Gasvergiftung.

Angesichts dieses erdrückenden Beweismalerials gestand Sergei: er habe den Großkaufmaun in der geschilderten Weise ermordet, dann mittels Nachschlüssel das Gemach geöffnet, gelüftet und wiederum verschlossen, nachdem er die Brieftasche mit fast 70.000 Rubeln on sich genommen. —

Es kam nicht zum Proceß. Eines Morgens fand der Gefängnißwärter den Gefangenen todt vor; er hatte sich an seinen Hosenträgern erhängt und durch freiwilligen Tod seine Mordthat gesühnt, die in der Criminalgeschichte fast beispiellos dasteht.

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